Obergebra

Heeresmunitionsanstalt Obergebra

Am 25. Juni 1935 nahmen Mitarbeiter des Heereszeugamtes Kassel die Verbundschachtanlage Gebra und Lohra, um ihre Tauglichkeit für die Munitionseinlagerung zu prüfen, in Augenschein. Die Kommission schätzte die Anlage als geeignet ein, woraufhin die Wintershall AG Anfang September 1935 den Kaliabbau endgültig einstellte. In einem Schreiben vom 13. September 1935 machte die Firma dem Reichswirtschaftsministerium nähere Angaben zum laufenden Genehmigungsverfahrens für die neue Verwendung: „Über Gebra-Lohra kann für die gedachten Zwecke jetzt endgültig disponiert werden, nachdem die Kaliprüfungsstelle, das Wirtschaftsministerium und außerdem das Oberbergamt Halle ihr Einverständnis gegeben haben“. Am 11. November 1935 befuhren Vertreter der Wintershall AG und des Heereszeugamtes Kassel gemeinschaftlich den Schacht und legten die konkrete Raumaufteilung fest.

Bis spätestens April 1936 sollten die unterirdischen Grubenbaue mit einer Fläche von 50.000 qm komplett bezugsfertig sein. Die Gleisanlagen im südlichen Teil der Schachtanlage befanden sich zu diesem Zeitpunkt schon im Ausbau. Obwohl 22 Mitarbeiter seit Oktober 1935 mit den Maßnahmen befasst waren, gelang es der Wintershall AG nicht, die übernommenen Aufräumungs- und Erschließungsarbeiten innerhalb des einkalkulierten Zeitrahmens zum Abschluss zu bringen. Am 19. Juni 1936 teilte die Konzernleitung der Zentralverwaltung der HMA Obergebra mit, dass „mit dem Abschluss der Arbeiten in etwa zwei Monaten zu rechnen sei“. Ungeachtet der sich verzögernden Bauarbeiten und Errichtung der Lagekammern unter Tage trafen Anfang März 1936 die ersten Rüstungsgüter, die die Untertagearbeiten weiter beeinträchtigten, in Obergebra ein. Erschwerend kam hinzu, dass das Heer Baupersonal der Wintershall AG für eigene Zwecke abzog.

Wegen der noch fehlenden Einlagerungsmöglichkeiten gab die Bauleitung den Rohsalzschuppen „als erste Möglichkeit für unterzubringende Güter“ fei. Anfang Mai 1936 nahm das Heer das Kaliwerk Obergebra offiziell in Besitz, obwohl zu diesem Zeitpunkt noch eine schriftliche Vereinbarung zwischen der Wintershall AG und dem Heereszeugamt fehlte. Der Abschluss des Vertrages verzögerte sich, weil das Heer auf möglichst einheitliche Verträge für ihre Munitionsanstalten in Kaliwerken drängte und der Vertragstext mit denen anderer Standorte abzugleichen war. Dem Heer ging es darum, die Benutzbarkeit der Bergwerke vertraglich dauerhaft zu sichern. Ende Mai 1936 unterrichtete die Wintershall AG die Gemeinde Obergebra darüber, dass „die Heeresmunitionsanstalt die gesamten Anlagen des Werks Gebra-Lohra für Zwecke der Reichswehr übernommen“ habe und die Abrechnungen der Wassermengen mit Wirkung ab Mai 1936 von dort zu erfolgen habe. Der endgültige Nutzungsvertrag gelangte erst im November 1940 rückwirkend ab April 1936 zur Unterzeichnung.

Die Kalischächte Alexandershall (Heeresmuna Berka/Werra), Wittekind-Hildasglück (Heeresmuna Volpriehausen) und Obergebra waren für das Heer unverzichtbar. Allein bei Räumung dieser drei Untertagelager wäre ein oberirdischer Geländebedarf von 4.800 ha, verteilt auf 19 oberirdische Heeresmunitionsanstalten, erforderlich gewesen. Spätestens im November 1938 waren die von der Muna in den Verbundschächten Gebra und Lohra eingerichteten Lagerkammern mit Munitions- und Pulverbeständen vollständig belegt. In der Südstrecke und ihren Abzweigungen ließ das Heer 21-cm-Mörsergranaten, leichte und schwere Feldhaubitzgranaten, Munition der 8,8-cm-Flak und die im oberirdischen Munitionsfertigungsgebiet verarbeiteten Pulverbestände einlagern.

Eine Erfassung über die Bevorratungslage des Heeres zum 25. Dezember 1938 weist Obergebra als zentrale Belieferungsstelle im Mobil-, also dem Kriegsfall, aus. Über die konventionellen Munitionsbestände hinaus trafen ab Juni 1939 bis zu 100 mit Holz ummantelte Fässer mit chemischen Kampfstoffen in Obergebra ein, die nach Angaben des Feuerwerkers ebenfalls in der Südstrecke unter Tage einlagerten. Offenbar gab es den Plan, in Obergebra eine Füllstelle für Kampfstoffmunition einzurichten, doch scheint es dazu bis Kriegsende nicht gekommen zu sein. Bei dem in Obergebra eingelagerten chemischen Kampfstoff handelte es sich um den Augenreizstoff „A-Mehl“ (Chloracetophenon). Teilbereiche der Südstrecke durften von nun an nur noch unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen betreten werden. Der ehemalige Feuerwerker erinnert sich: „Wenn wir die Fässer bewegen mussten, durften wir nur fünf Minuten die Strecke betreten. Wir trugen Atemmasken und vollkommen geschlossene Gummianzüge. Nach Verlassen des Schachtes erhielten wir eine Sonderration Milch“.
Hadmunitionshaus heeresmuna obergebra

Erst nachdem die Errichtung der unterirdischen Lagerräume bereits in vollem Gange war, begab sich das Heer im Frühjahr 1936 daran, die requirierten Gebäude des stillgelegten Schachtgeländes für eigene Zwecke herzurichten. Die Umbauarbeiten, die im Herbst 1936 begannen, waren frühestens Ende 1938 vollständig abgeschlossen. So listet das Bauprogramm des Heeres vom März 1938 für die Heeresmuna Obergebra (Vorhaben 9144) einen umfangreichen Maßnahmenkatalog noch zu erbringender Arbeiten auf. Neben dem Bau der Zufahrtsstraße standen, wie 1937 beantragt, nachfolgende Arbeiten auf der Agenda: Umbau der Kaue als Wohlfahrtsraum, Schaffung einer Überdachung der Verladestelle am Schacht Gebra, Einziehen einer Zwischendecke im ehemaligen Rohsalzschuppen, Erweiterung der Kraftfahrzeughalle, Ausbau eines vorhandenen Magazins als Raum für Munitionsgerät, Beschaffung eines Haspels mit schlagwettersicheren Motor, Verlängerung des Daches der Verladerampe, Erweitern des Werkstattgebäudes, Anbringen von Oberlichtern in der Tischlerei und das Herrichten des Kühlturmes.

Um den Anforderungen einer Muna Rechnung zu tragen, ließ das Heer westlich des requirierten Schachtgeländes aus dem Nichts ein Munitionsarbeitsgebiet (F-Gebiet) mit sieben Munitionsarbeitshäusern, drei massiven Lagergebäuden, zwei Handmunitionshäusern, einem Löthaus, einem Heizhaus und einem Sozialgebäude innerhalb kürzester Zeit entstehen. Die für den Bau notwendigen Grundstücke erwarb der Reichsfiskus im August 1936 und im Mai 1937 unter Androhung der Enteignung von der evangelischen Kirchengemeinde. Einen Großteil der Gebäude des Fertigungsgebietes, die mit einer Kleinbahn und einer asphaltierten Straße miteinander verbunden waren, errichtete das Heer in massiver Stahlkonstruktionsbauweise. Die dreigeschossigen Lagerhallen waren mit einen Fahrstuhl und einer Klimaanlage ausgestattet.

Aus Tarnungsgründen waren sämtliche Dächer begrünt und das gesamte Gelände mit einer Tarnbepflanzung versehen. Die Lagerhäuser 1 und 3 dienten als Magazin für Packmaterial. Im Lagerhaus 2 waren die Büros der HMA Obergebra und Wohnungen für das Führungspersonal untergebracht. Ein weiteres zweigeschossiges Gebäude diente als Wohlfahrtsgebäude mit Veranstaltungssaal und Küche.

In den fünf eingeschossigen Munitionsarbeitshäusern waren vorwiegend Frauen damit beschäftigt, Munition schussfertig zu machen, Kartuschbeutel zu nähen und Pulver abzufüllen. Die HMA Obergebra war spezialisiert auf die Herstellung von Munition der leichten (10,5-cm) und schweren Feldhaubitze (15-cm), der 8,8-cm-Flak und der 3,7-cm-Flakt. Zum Schutz vor Funkenbildung legte die Muna die Fußböden der Muntionsarbeitshäuser mit zwei Zentimeter dickem Filz aus. Die Kartuschbeutel waren mit schwarzem Plättchenpulver in verschiedenen Körnungen und Größe oder NC-Pulver, das die Muna teils aus Reinsdorf bezog, zu befüllen. In einem weiteren Arbeitsgang waren die Kartuschen mit den zuvor hergestellten Kartuschbeuteln zu versehen und im letzten Gang mit einem Pappdeckel zu verschließen. Zum Schutz vor Nässe kam dabei eine spezielle Dichtungsmasse zum Einsatz.

Nach Abschluss der Arbeiten lagerte die Muna die so befüllten Kartuschen im Schacht ein, bevor sie auf Anforderung an die Front gingen. Nach Aussage einer ehemaligen Arbeiterin machte die Muna im Arbeitshaus 5 auch Tellerminen, möglicherweise aus der Produktion der DAG in Herzberg, schussfertig. Aus Sicherheitsgründen waren die tagsüber nicht verarbeiteten Pulverbestände in die beiden Handmutionshäusern am westlichen Ende des F-Gebietes zu bringen. In diesen Gebäuden wurde die Munition, zumindest bis 1940, mit dem Zünder versehen. Nach einer Besichtigung der Anlage durch „mehrere Berliner Herren“ im August 1940 verlegte die Muna zumindest Teile dieses Arbeitsbereiches nach unter Tage in zwei neu geschaffene unterirdische Munitionsarbeitsräume. Ab 1940 arbeitete die Heeresmunitionsanstalt Obergebra auch als Zerlegestelle für von der Front zurückgeführte Beutemunition und Blindgänger. In der Nähe des Schachteingangs Lohra delaborierten die Feuerwerker die Munition auf offener Flur. Dies geschah auf einfachste Art und Weise, in dem sie das Pulver auf offenem Feuer herausbrannten.

Die HMA Obergebra beschäftigte bis zu 3.000 Arbeitskräfte, darunter junge Frauen, die ihren Reichsarbeitsdienst in Obergebra ableisteten. Mehr als die Hälfte der Gesamtbelegschaft befasste sich mit der Herstellung von Munition. Angehörige der Wehrmacht leiteten die Muna, zunächst Hauptmann Bergeler, dann Hauptmann Marsch und zuletzt Hauptmann Rudolf. An ihrer Seite stand eine Schar leitender Verwaltungsbeamte, unter ihnen der am 26. März 1901 geborene Arno Schmidt. Er trat 1938 in den Dienst der Muna Obergebra ein. Auch nach der Besetzung durch die Alliierten arbeitete er zunächst als Angestellter der Schachtanlage und von Januar bis Juni 1949 als Mitarbeiter der werkseigenen Betriebspolizei.

Mit Fortschreiten des Krieges rekrutierte die Muna vermehrt ausländische Arbeitskräfte, darunter 66 Franzosen, 10 Flamen und Italiener unbekannter Anzahl. Eine Aufstellung der „Ostarbeiterlager“ im Kreis Grafschaft Hohenstein vom September 1942 weist 99 Ukrainerinnen aus, die im Lager der HMA Obergebra untergebracht waren. Anders als die westeuropäischen Arbeitskräfte durften sie das Lager nicht eigenständig verlassen und wurden während der Nacht von Wehrmachtsangehörigen bewacht. Die Frauen wurden gegen ihren Willen verschleppt, andere durch falsche Versprechungen ins Deutsche Reich gelockt. Die ausländischen Muna-Arbeiter waren in einem Barackenlager direkt vor dem Werksgelände mit zwei Unterkunfts-, einer Abort- und einer Verpflegungsbaracke mit Küche untergebracht. Nach dem Krieg entstanden auf diesem Areal Wohnhäuser. Die Fundamente der Baracken sind teilweise noch heute zu erkennen. Bei ihrer Ankunft im Jahr 1942 fanden die Ukrainerinnen das Lager umzäunt vor und weigerten sich deshalb, die Unterkünfte zu beziehen. Ihr Protest zeigte Erfolg, denn die Heeresmunitionsanstalt musste wenige Tage später auf Weisung des zuständigen Feldzeugkommandos die Umzäunung des Lagers entfernen. Die Muna setzte die Frauen in allen Bereichen ein, also nicht nur zu Lagerarbeiten im Schacht, sondern auch bei der Herstellung von Munition.

Ab November 1944 räumte die Muna Teile ihrer oberirdischen Gebäude für die Elektromechanische Werke GmbH (EMW) als Vorratslager für elektrische Bodenanlagen und Raketenteile. Im Lagerhaus 3 verwahrte die Firma Strahlruder, Pyrozünder und Antennen für die A4-Rakete, ohne eine Produktion aufzunehmen.
Russiche besatzes heeresmuna obergerba

Am 10. April 1945 besetzten zunächst amerikanische Truppen den Rüstungskomplex. Nach ihrem Abzug übernahm eine russische Einheit mit 1.000 Soldaten¸ die in einem Lagerhaus des ehemaligen Fertigungsgebietes untergebracht waren, das Gelände. Im November 1945 ordnete der zuständige sowjetische Oberstleutnant Maschkileisson die Reparatur der teilweise zerstörten Schachtanlage „Lohra“ an. Die Arbeiten begannen am 20. November 1945. Am 12. Dezember 1945 rechnete das Thüringische Landesamt für Wirtschaft mit einer Reparaturdauer von mindestens zwölf Wochen. „Da zur Aufnahme des Betriebes für die unter Tage arbeitende Belegschaft ein zweiter Fluchtweg vorhanden sein muss“, wurden im März 1946 die Arbeiten auch auf den Schacht Gebra ausgedehnt.

Hinter der Wiederherstellung steckte der Wille, entsprechend dem Produktionsbefehl Nr. 9 der SMAD Karlshorst, so schnell wie möglich wieder Kalisalz zu gewinnen. Zunächst galt es, die Förderanlagen Gebra und Lohra wieder instandzusetzen. Dann gingen deutsche Arbeitskräfte daran, die Munition aus den Stollen zu räumen. Laut einer Mitteilung des Landesamtes für Finanzen an das zuständige Finanzamt Nordhausen vom 15. April 1946 erhielt die Firma Rabebau aus Bleicherode den Auftrag zur „Durchführung der Munitionsauslagerung aus der ehemaligen Munitionsanstalt Obergebra“. Sie veranschlagte die Gesamtkosten auf 193.000 RM. Der überwiegende Teil sollte durch den Verkauf des ehemaligen Wehrmachtsgutes gedeckt werden.

Die aus dem Schacht geborgenen Munitions- und Pulverbestände wurden mit Pferdefuhrwerken ins Friedetal bei Sollstedt transportiert. Es gab dort keinen zentralen Sprengplatz; vielmehr wurde das Räumgut an verschiedenen Stellen im Wald aufgeschichtet und unter der Aufsicht sowjetischer Soldaten gesprengt. Noch heute zeugen im Friedetal zahlreiche, zum Teil mit Wasser gefüllte Sprengtrichter davon. Gleichzeitig wurde der chemische Kampfstoff geborgen. Die damit beschäftigten deutschen Arbeitskräfte gingen ohne besondere Sicherheitsvorkehrungen oder Schutzanzüge zu Werke. Nach der langen unterirdischen Lagerung waren die Fässer teilweise schwer beschädigt und „löchrig wie ein Sieb“. So trat immer wieder das pulverförmige Chloracetophenon aus. Die hölzerne Schutzummantelung der Fässer war inzwischen abgefallen. Ihre Reste wurden in unmittelbarer Nähe des Schachtes Lohra verbrannt. „Am Himmel stiegen schwarze Wolken auf, als das Holz verbrannt wurde. Es war ein höllischer Gestank.

Auf dem Gelände wuchs mehrere Jahre lang kein Grashalm mehr“. Die Fässer selbst wurden mit einer Seilbahn zur Eisenbahnstation Obergebra geschafft, dort auf Lastwagen verladen und in unbekannte Richtung abtransportiert. Diese Auslagerungsaktion leitete und koordinierte die Jenaer Firma Potthof. Offenbar erhielt sie von der SMAD den Generalauftrag zur Kampfmittelräumung in der sowjetischen Besatzungszone. Ein Schreiben des Ministeriums des Innern der DDR an die Volkspolizeibehörde Erfurt vom Juni 1953 bekundet, dass die Firma Potthof die geborgenen Kampfstoffbestände in der Ostsee versenkte.

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