Göttingen II
Teil II: Rüstungsindustrie in Göttingen
Die Firma Josef Schneider & Co., Optische Werke, aus Bad Kreuznach verlagerte im Jahr 1936 ebenfalls Kapazitäten nach Göttingen; zunächst in das Stadtzentrum, Goethe-Allee 8a. Der Zweigbetrieb, zur Abarbeitung von Rüstungsaufträgen gegründet und ebenfalls mit Staatsmitteln gefördert, wurde am 9. April 1936 in das Handelsregister der Stadt eingetragen. Das Göttinger Werk stellte vorwiegend für die Luftwaffe optische Mess- und Bilderkennungsgeräte, Doppelfernrohre und Reflex-Visiere her. Die Einzelfirma wurde im Februar 1942 gelöscht. An ihre Stelle trat die Josef Schneider Optische Werke GmbH, die noch im selben Jahr das neu erbaute Fabrikgebäude in Weende an der Reichsstraße 27 bezog. Ende Dezember 1944 beschäftigte der Göttinger Rüstungsbetrieb 653 Personen; darunter 46 Ost- und 37 Fremdarbeiterinnen anderer Herkunft, 76 männliche Ausländer sowie 41 französische Kriegsgefangene. Die Franzosen waren in einer Holzbaracke, zur Straßenseite mit Stacheldraht abgezäunt, auf dem Betriebsgelände selbst untergebracht.
Neben diesen in Göttingen neu angesiedelten Unternehmen kamen auch die alteingesessenen Firmen der feinmechanischen und optischen Branche in den Genuss von Rüstungsaufträgen in stetig steigender Zahl. Die Ruhstrat AG produzierte seit 1936 in ihrem Stammwerk in der Lange Geismarstraße 68–72 und ab 1942 im „Leinewerk“ in der Goethe-Allee (heute Am Leinekanal 4) Widerstände, Schiebetrafos, Verdunkelungseinrichtungen und Notbeleuchtungen. Zudem lieferte die Fabrik Abwurfgeräte und Zubehörteile wie Kolbenmagnete für Bombenschlösser. Wie schon im Ersten Weltkrieg war das Unternehmen erneut für die Marine tätig. So rüstete Ruhstrat U-Boote mit Akku-Notleuchten und Ladeschränken aus. Am 1. April 1940 beschäftigte der Betrieb 520 Personen; 119 waren im Bereich der Luftwaffenrüstung tätig. Ende Dezember 1944 war ihre Zahl allein im Hauptwerk auf 688 und im „Leinewerk“ auf 344 angewachsen. Zu diesem Zeitpunkt waren in beiden Niederlassungen 52 Ost- und 157 Ostarbeiter/innen sowie weitere 73 Ausländer im Einsatz. Die Russin Tamara Borisowna P., die im Juli 1942 als 13jährige deportiert und mit 37 anderen Zwangsarbeiterinnen Ruhstrat zugeteilt wurde, berichtet, sie habe zunächst an der Drehbank gearbeitet, dann Akkumulatoren mit Spezialsäure aufgefüllt. Schließlich sei sie an eine Fräsmaschine versetzt worden, und zwar in der Nachtschicht. Vor Müdigkeit habe sie die Maschine laufen gelassen, sei auf die Toilette gegangen und eingeschlafen. Der Meister habe sie entdeckt und mit kaltem Wasser begossen. Sie sei aufgeschreckt und habe dabei den Meister berührt. Das sei so ausgelegt worden, als hätte sie ihn geschlagen. Danach sei sie strafweise zu den Pelikanwerken nach Hannover gekommen.
Ruhstrat unterhielt für seine ausländischen Zwangsarbeiter auf einem Ziegeleigelände eine aus fünf Holzbaracken bestehende Sammelunterkunft. Auch Tamara Borisowna wurde in das von Ruhstrat betriebene Lager ‚Tonkuhle‘ gebracht. Das, so berichtet sie, wäre eines der schlimmsten Lager in Göttingen gewesen. Eingerichtet in einer alten Ziegelei, am Boden eines ausgebeuteten Tonlagers, so dass man den Himmel nur sah, wenn man den Kopf in den Nacken legte und so feucht, dass die Baracken auf Klötzen über dem Boden schwebend errichtet werden mussten. Gegen Ende des Krieges war dieses Lager ‚Tonkuhle‘ mit 250 Arbeitern belegt; 90 % waren Russen, die anderen Franzosen.
Der Laboreinrichtungshersteller Physikalische Werkstätten AG (Phywe), ein Göttinger Traditionsbetrieb, lieferte Nachrichtengeräte, Zünder, Frequenz-Prüfgeräte, Stromanzeige-Vorrichtungen für Schaltkästen und Auswurfklappen für das MG 42. Ende 1944 beschäftigte die Phywe 718 Personen, darunter 55 Ostarbeiterinnen, 35 weitere Ausländer (20 Männer und 15 Frauen) und 43 Kriegsgefangene. Die französischen Arbeitskräfte waren im Saal der Gastwirtschaft „Zur Linde“ im Göttinger Vorort Geismar untergebracht. Zivile Aufseher führten sie täglich quer durch Göttingen zur Fabrik im Salinenweg. Die Phywe verzeichnete seit 1938 jährlich zweistellige Umsatzzuwächse, 1941 gar 100 %. 1941 richtete die Phywe ein Zweigwerk im annektierten Elsass ein: „Zwecks rationeller Ausnutzung der Fertigungsräume wurden Teile der Fertigung nach Straßburg-Neudorf verlegt“. Auch 1942 zeigte die Firma sich mit dem Gang der Geschäfte durchaus zufrieden: „Der Umsatzrückgang, bedingt durch weitere Einschränkungen der Friedenssektoren, hat im Geschäftsjahr 1942 durch Bearbeitung vermehrter Kriegsaufgaben voll ausgeglichen werden können“. Das galt auch für die elsässische Dependance: „Das Zweigwerk Straßburg-Neudorf konnte nach Anpassung der Fertigungsmöglichkeiten an einem (…) Teil der Aufgaben des Stammwerkes bereits mit größeren Lieferungen einsetzen“.
Erleichtert zeigte die Geschäftsführung sich 1942: „Eine Reihe von Spezialerzeugnissen der Vorkriegszeit ist inzwischen kriegswichtig geworden“, zudem konnten „Ende des Jahres (…) weitere Aufgaben in Angriff genommen“ werden.399 Welche das waren, bedarf noch weiterer Aufklärung. Am 11. Dezember 1942 bat das Straßburger Zweigwerk in einem vom Firmengründer und Vorstandsvorsitzenden Gotthelf Leimbach unterzeichneten Brief die Göttinger Firma Lambrecht, einen mit getrennter Post zugeschickten „Zopf Haare (…) auf die Dehnung genau bestimmen zu wollen“. Zwei Herren vom OKH Berlin hätten „Versuche an bei uns gefertigten Mustergeräten zur Wettersonde“ durchgeführt, bäten nun um Beprobung des Haarbüschels. Lambrecht solle es danach wieder nach Straßburg senden, aber „Meldung über die gefundenen Werte an OKH Wa Prüf 8/III, mit Durchschlag an Phywe Straßburg“ machen. Folglich wurden in Straßburg nicht nur Labormöbel gebaut, sondern ebenfalls „Feuchtigkeitsaggregate“. Möglicherweise wuchsen der Phywe auch weitere Aufgaben bei Entwicklung von Geräten zur Isotopentrennung zu. Ein im Archiv des Deutschen Museums aufbewahrtes, nach Kriegsende zunächst von den USA beschlagnahmtes Dokument hält „ca. 1942“ fest, dass sich als „unmittelbare technische Vorhaben (…) Ultrazentrifugen bei den Firmen Anschütz (Kiel) und Phywe (Göttingen) im Bau“ befänden. Sie sollten sich für Uranisotope anwenden lassen und „bei Anreicherungen von etwa 7 % relativ große Mengen“ liefern. Die Befreiung Frankreichs und der Vormarsch der Alliierten setzen der Phywe-Expansion ins Elsass und nach Baden 1944 ein Ende: „Aus militärischen Gründen sind die wichtigsten Fertigungen des Werks Straßburg/Els. im Oktober, die des Werks Lahr/Schwarzwald im November mit einigen Verlusten durch Feindeinwirkung in das Zweigwerk Elgersburg/Thür. und ein gemietetes Werk in Northeim verlagert worden“. Die Northeimer Außenstelle Rhume-Werkstätten GmbH baute ab November 1944 mit etwa 50 Personen Elektrobauteile und Zünder.
Die Sartorius Werke GmbH war ebenfalls wichtiger Zulieferer der Luftwaffe. 1936 versorgte sie das RLM mit Fotokassetten. Im Oktober 1939 gelang es dem Unternehmen, einen staatlichen Großauftrag über 200 Zeitzünderzusatzgeräte zur Ausrüstung der Kampfflugzeuge Ju 88 und Do 17 einzuwerben, der sich auf 150.000 RM belief. Mit der Abwicklung dürfte Sartorius für Monate, zumindest bis März 1941, ausgelastet gewesen sein. Der Göttinger Rüstungsproduzent beteiligte die ortsansässige Firma Neidel & Christian als Unterlieferanten an dem Auftrag. Weitere Ausrüster, an die das RLM Teilaufträge für diese Geräte vergeben hatte, waren Rheinmetall-Borsig (Sömmerda), die Stocko Metallwarenfabrik Henkels (Wuppertal-Elberfeld), Langlotz & Co. (Ruhla) und das Glimsoma-Werk (Wiesbaden-Schierstein). Ansonsten stellten die Sartorius-Werke Abwurfgeräte für die Luftwaffe und Leitwerke für Bomben her. Ende 1944 zählte der Betrieb 920 Mitarbeiter. Noch Anfang April 1940 waren es weniger als die Hälfte, und lediglich 216 von ihnen arbeiteten an den Luftwaffenaufträgen. Im Dezember 1944 zählten 107 russische Frauen, 67 Fremdarbeiter und 25 Fremdarbeiterinnen sowie 19 Kriegsgefangene zur Belegschaft.
Die Göttinger Aluminiumwerke GmbH (Alcan) nahm zwar eine Sonderstellung ein, denn ihre Geschäftsanteile befanden sich fest in kanadischem Besitz, doch frühzeitig, bereits 1933 profitierte das Unternehmen von Aufträgen des NS-Regimes. Das Unternehmen war aus einem 1905 vom Kaufmann Gustav Löding gegründeten Kleinbetrieb hervorgegangen, der in der Burgstraße Rasiernäpfe, Haus- und Küchengeräte herstellte. 1908 verband er sich mit dem Kaufmann Carl Albrecht zum Aluminiumwerk Löding & Albrecht. Allerdings schied Löding nach einem Jahr aus, erwarb ein Grundstück in Weende und gründete am 1. Oktober 1909 die Firma „Aluminiumwerk Carl Albrecht“. Sie produzierte ebenfalls Hausrat, spezialisierte sich aber gleichzeitig auf Zieh-, Druck-, Stanz- und Kaltpressteile aus Reinaluminium für Geräte, Behälter und Apparate. Der Betrieb florierte, offenbar auch aufgrund von Rüstungsaufträgen während des Ersten Weltkriegs. Das Aluminiumwerk produzierte mit 120 bis 160 Arbeitskräften Feldflaschen, Kochgeschirre und weitere Leichtmetall-Ausrüstungsgegenstände für Heer und Marine. In großem Umfang stellte das Werk zudem Zündladungskapseln her. 1919 kehrte das Unternehmen zur Produktion von Küchengeschirr zurück, zunächst mit großem Erfolg vor allem im Auslandsgeschäft; 1923 hatte es den höchsten Exportanteil seiner Branche. Zur Behauptung am Markt und, um weiter zu expandieren, ließ Albrecht auf dem Werksgelände an der Weender Landstraße ein eigenes Walzwerk errichten. Anfang September 1924 nahm es in zwei neu gebauten Hallen den Betrieb auf. Hohe Anlaufkosten des Walzwerkes, heftige Preiskämpfe und rückläufige Exportaufträge brachten die Firma finanziell in Bedrängnis.
1926 übernahmen die Gläubiger das Unternehmen, wandelten es unter Führung der Dresdner Bank Hannover am 26. Juli des Jahres in eine GmbH um; es firmierte nunmehr als Aluminiumwerk Göttingen GmbH, vormals Carl Albrecht. Im Mai 1930 erwarb die international agierende kanadische Unternehmensgruppe Aluminium Ltd. (Toronto) sämtliche Geschäftsanteile. Sie stattete ihre Göttinger Aluminiumwerke GmbH (Alcan) mit den für Ausbau und Modernisierung des Werkes erforderlichen Finanzmitteln aus und verfünffachte das Stammkapital. Trotz der ausländischen Muttergesellschaft bemühte sich das Unternehmen frühzeitig um Rüstungsaufträge des NS-Staates und führte schon ab 1933 Spezialanfertigungen für die SA aus. Zudem produzierte das Unternehmen Feldflaschen, Kochgeschirre und Einrichtungsgegenstände für Mannschaftsunterkünfte. Einen großen Schritt in Richtung Kriegsrüstung tat der Betrieb 1934 mit dem Erwerb des schwedischen Patentes zur Herstellung von „Elastic-Stop-Sicherheitsmuttern“.
Die Firma stellte ihre Betriebsabteilungen auf die Fabrikation dieser besonders in der Flugzeugindustrie benötigten Sicherheitsmuttern um. So erlangte Alcan innerhalb weniger Jahre eine Alleinstellung für deren Fertigung. Von 1937 bis 1941 verdoppelten sich fast die jährlichen Umsätze mit diesen Muttern. Lag ihr Anteil am Gesamtumsatz 1937 noch knapp unter 20 %, so konnte er bis 1941 auf 67 % gesteigert werden. Die Gesamtbelegschaft wuchs im gleichen Zeitraum von 534 auf 1.270 Personen.416 Die zivile Produktion trat dagegen in den Hintergrund, wurde 1939 fast ganz eingestellt. Außer Sicherheitsmuttern stellte Alcan für die Flugzeugindustrie Bleche aus Reinaluminium und Aluminiumlegierungen her. Der Metallbetrieb war existenziell von Rüstungsaufträgen des RLM abhängig geworden; sie machten über 90 % seines Gesamtumsatzes aus. Weitere fünf Prozent entfielen auf Heeresaufträge.