Göttingen III
Teil III: Rüstungsindustrie in Göttingen
Private Auftraggeber und solche der Marine hatten nur eine untergeordnete Bedeutung. Obwohl Alcan die Kriegsmaschinerie bereitwillig unterstützte, wurde das Werk 1941 der Aufsicht der Aluminium Ltd. entzogen und an eine reichseigene Treuhandgesellschaft übertragen. Alleinige Gesellschafterin der neu gegründeten Aluminium-Verwaltungsgesellschaft war die Bank der Deutschen Luftfahrt AG, die ein Stammkapital von zwei Millionen RM einbrachte. Sie verpachtete die Fabrik an die ‚neue‘ Aluminiumwerke Göttingen GmbH, die die Produktion im bisherigen Umfang fortführte. Im Beirat der Gesellschaft saßen Regierungsrat Doyé (RLM), Direktor Hans Braun (Aerobank Berlin), Regierungsrat Dr. Goebel (Oberfinanzpräsidium Hannover) und Oberstingenieur Dr. Leyensetter (RLM). Ende 1943 zählte die Alcan-Belegschaft 1.321 Personen, darunter etwa 42 % Ausländer. Bei knapp 25 % lag der Anteil weiblicher deutscher Mitarbeiter. Etwa 75 % der Belegschaft war mit der Massenproduktion von Sicherheitsmuttern befasst.
Vermutlich Ende 1943/Anfang 1944 hatte Alcan vom Heer den Serienauftrag zur Anfertigung von Flanschmuttern für die A4-Rakete erhalten. Damit standen geringere Kapazitäten für die Produktion der Sicherheitsmuttern zur Verfügung. Sie wurde daher partiell nach Hameln verlagert und an die Holzwarenfabrik Herlag in Lauenförde abgegeben. Herlag übernahm 35 Maschinen und eine 800-t-Presse aus Göttingen. Nach dieser Dezentralisierung wurden 24 der pro Quartal geforderten 32 Millionen Annietmuttern außerhalb des Stammwerkes hergestellt. Alcan bediente sich dazu einer Vielzahl weiterer Unterlieferanten, so der Göttinger Firma Mehle & Co. (Umsatz in 1943 knapp eine Million RM), der Autohallen Göttingen (Umsatz in 1943 über 1,1 Million RM) und August Fischer (Umsatz in 1943 knapp über 200.000 RM). Außerhalb von Göttingen waren in die Rüstungsaufträge u. a. eingebunden: Adolf Jerger (Niedereschbach), Kolb & Co. (Wuppertal), Kreidlers Metall- und Drahtwerke (Stuttgart-Zuffenhausen), Werner Krüger (Erfurt), Gmöhling & Co. (St. Ludwig), Leipziger Leicht-Metallwerk, Martin Schmid (Berlin), H. W. Schmidt (Döbeln) und Math. Storz & Söhne (Waldkirch). Mitte 1944 beschäftigte Alcan 1.425 Mitarbeiter. Ende September hatte sich die Zahl geringfügig auf 1.387 reduziert.
Bereits das nahende Kriegsende vor Augen, richteten die Aluminiumwerke noch im Juni 1944 in zwei Räumen des Göttinger Gerichtsgefängnisses eine dezentrale Produktionsstätte für Annietmuttern ein. Dort standen bis zu 39 Strafgefangene, ohne an arbeitsrechtliche Schutzvorschriften gebunden zu sein, in drei Schichten rund um die Uhr an den Werkbänken. Als Vermittler von Rüstungsaufträgen betätigte sich die „Feinhand“, Landeslieferungs- und Einkaufsgenossenschaft für das Feinmechaniker-, Optiker und Elektromechaniker- Handwerk Niedersachsen e.G.m.b.H, die vermutlich aus der Verkaufsvereinigung Göttinger Werkstätten hervorgegangen war. Diese Gesellschaft wurde 1921 von den Göttinger Unternehmern bzw. Firmen Sartorius, Ruhstrat, Spindler & Hoyer, Wilhelm Lambrecht GmbH und anderen zum Zwecke gemeinsamer Absatzförderung gegründet. 1925 wurde der Betrieb in Vereinigung Göttinger Werke umbenannt.
„Feinhand“ warb bereits frühzeitig Rüstungsaufträge ein, führte sie aber nicht selbst aus, sondern leitete diese im Innenverhältnis an die Mitgliedsbetriebe weitergelei. Die Dachorganisation war ausschließlich für die Auftragsabwicklung und die Abrechnung mit den jeweiligen Auftraggebern zuständig. Die in Regie von „Feinhand“ hergestellten Produkte, vorwiegend Bombenabwurfgeräte und Zubehörteile für die Luftwaffe, trugen die Kennung „hev“. Nach dem Eintrag in der „Reichsbetriebskartei“ soll die Genossenschaft im Februar 1944 über 1.000 Personen beschäftigt haben, doch diese Zahl bezog sich vermutlich auf die Mitarbeiter der beteiligten Firmen. Zu denen gehörte das feinmechanische Unternehmen von August Fischer mit seinen Werkräumen in der Oberen Karspüle 47, später in der Hospitalstraße 7. Schon am 11. November 1937 wies die Wehrwirtschaftsinspektion XI Hannover das RLM darauf hin, dass Fischer als Mitglied der „Landeslieferungs- und Einkaufsgenossenschaft GmbH“ bereits an „RLM-Aufträgen“ beteiligt sei. Damit ist die frühe Akquise von Rüstungsaufträgen über „Feinhand“ belegt. Anfang März 1939 erhielt „Feinhand“, zu dem Zeitpunkt noch mit Sitz in der Prinz-Albrecht-Straße 32, den Besuch eines Vertreters des RLM, der die Göttinger Rüstungsfirmen für den Nachbau eines Gerätes gewinnen wollte.
Unter dem 23. März 1939 teilte die Verkaufsorganisation dem RLM mit, dass bei August Fischer „infolge der langjährigen Beschäftigung dieser Werkstatt mit elektrischen Schaltgeräten der Nachbau des fraglichen Gerätes (…) außerordentlich günstig erfolgen könnte“. Am 24. Mai 1939 ging der Vorbescheid über die Lieferung von 300 Zeitzünder-Zusatzgeräten ZZG 1/24 für die Bombenflugzeuge Ju 88 und Do 17 nach Göttingen. Von Mai 1940 bis April 1941 sollten monatlich 25 Stück der bis dahin bei Rheinmetall in Sömmerda produzierten Geräte ausgeliefert werden, doch bis September 1940 hatte die Herstellung wegen mangelnder Zulieferungen noch nicht begonnen. Ende Februar 1941 gingen die ersten 12 Geräte bei der Abnahmestelle ein. Die zwischenzeitlich in die Obere Karspüle 43 (Baugeschäft Kraft) umgezogene „Feinhand“ arbeitete den kompletten Auftrag im ersten Quartal 1943 ab. Im April 1943 veranlasste das RLM eine nachträgliche Preisprüfung, wegen der der ursprünglich vereinbarte Preis von 760 RM pro Gerät auf 631,30 RM reduziert werden musste, so dass die Göttinger Rüstungsagentur einen Betrag von 38.610 RM an die Staatskasse zu erstatten hatte. Außer Zulieferungen für die Kriegsmaschinerie organisierte „Feinhand“ als zentrale Stelle auch die Ausbildung und Qualifikation von Arbeitskräften, nicht nur für die Göttinger Unternehmen, sondern ebenso für die Junkers-Werke. Erstmals im Oktober 1940 trafen 50 Elsässer aus einem Transport der Junkers-Flugzeug- und Motorenwerke AG Kassel in Göttingen ein und wurden in der ‚Feinmechanikerschule‘ einquartiert.
Von Januar 1941 bis Februar 1942 bildete die Dachorganisation Göttinger Feinmechanik und Optikfirmen mehrere Gruppen von Flamen aus, die nach vier bis 12 Wochen Aufenthalt bei Junkers in Schönebeck eingesetzt wurden. Ab Juli 1942 sind holländische Arbeitskräfte, die ebenfalls für den Arbeitseinsatz bei Junkers bestimmt waren, nachweisbar. Nach Aktenlage ließ Junkers letztmalig im Januar und März 1943 Tschechen in der Universitätsstadt schulen. Eine Firma, der die „Feinhand“ ebenfalls Rüstungsaufträge zuspielte, war die Spindler & Hoyer KG. Im August 1898 übernahmen die Mechaniker August Spindler (1870 – 1927) und Julius Adolf Hoyer (1874 -1943) das herabgewirtschaftete feinmechanische Unternehmen Diederichs zum äußerst günstigen Kaufpreis von 6.000 Goldmark. Die Erwerber setzten zunächst die bisherige Produktlinie, bestehend aus meteorologischen, feinmechanischen und optischen Instrumenten fort, etablierten sich sehr schnell auf dem Markt und warben neue gewinnträchtige Aufträge ein, insbesondere von der Universität Göttingen. Besonders ertragreich erwies sich die Bau weltweit vermarkteter Seismographen zur Erbebenwarnung. 1907 bezog das Unternehmen einen großzügig ausgestatteten Werksneubau in unmittelbarer Nachbarschaft der Firma Rudolf Winkel. Zu Mikroskopen, die nun serienmäßig hergestellt wurden, kamen ab 1909 Feldstecher, mit denen Spindler & Hoyer bald die kaiserliche Armee ausstattete. Der Militärauftrag zog während des Ersten Weltkrieges weitere nach sich; so lieferte Spindler & Hoyer militärisches Gerät wie Minenbeobachtungsrohre und Sehrohre für Unterseebote, aber auch wissenschaftliche Instrumente für die Luftfahrt.
Anders als die übrigen feinmechanischen Unternehmen der Universitätsstadt überstand Spindler & Hoyer Inflation und Wirtschaftskrise der Weimarer Zeit verhältnismäßig gut, auch wenn die Belegschaft Anfang der 1930er Jahre zurückgebaut wurde. Im letzten Halbjahr 1932 erhielt die Firma einen größeren Auftrag der Reichsbahn über Drehmomentwandler (Föttinger-Kupplungen), der ihr Überleben sicherte. Nach 1933 besserte sich die wirtschaftliche Situation beständig durch Heeres- und Luftwaffenaufträge. Erste Bestellungen für die Reichswehr führte das Unternehmen bereits 1935 aus. Spindler & Hoyer brauchten den Betrieb nicht auf Kriegsproduktion umzustellen. Die Wehrmacht benötigte Feldstecher in solchen Mengen, dass die Kapazitäten der Firma damit nahezu ausgelastet waren. Nur wenige Militäraufträge entfielen auf Blinkgeräte für die Nachrichtentruppen, Zielfernrohre, Winkelspiegel für die MG-Optik und Periskope für Schützengräben. Hoyer, nach dem Tod Spindlers alleiniger Geschäftsführer, wurde im Dritten Reich als Leiter eines rüstungswichtigen Betriebes zum Wehrwirtschaftsführer ernannt.
Ende 1944 meldete das Werk dem Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion knapp unter 300 Arbeitskräfte. Mitgründer der „Feinhand“ und Adressat erheblicher Militäraufträge war die Firma Zeiss-Winkel. 1857 hatte sich der Mechaniker Rudolf Winkel in angemieteten Räumen in der Goethe-Allee selbständig gemacht und führte seitdem feinmechanische Arbeiten für die Firma Breithaupt in Kassel sowie die Universität aus. Vor allem die hohe Qualität der Winkel-Mikroskope begründete die rasante Entwicklung der Werkstatt, so dass sie 1874 in ein eigenes Gebäude Düstere Eichenweg 9/Ecke Baurat-Gerber-Straße verlegt wurde. 1907 bezog Winkel einen Neubau in der Königsallee 17–21, noch heute Standort des Unternehmens. 1911 trat Carl Zeiss als Hauptgesellschafter in die Einzelfirma ein, die von nun an als Winkel GmbH (Mikrowerk Göttingen) auftrat. Schon frühzeitig war die Herstellung optischer Präzisionsinstrumente für das Heer ein Geschäftszweig, auf den die Firma sich spezialisierte. Ab 1934 produzierte Winkel Flak- und Winkelzielfernrohre, Peilaufsätze für Marinekompasse, Geschosswaagen und Einzelteile für Richtfernrohre. Am 11. November 1937 forderte die Wehrwirtschaftsinspektion XI Hannover das RLM auf, die „Winkel R. GmbH“ als „Ausrüstungswerk“ zu kennzeichnen. Auch auf dem Gebiet der U-Boot-Optik war der Göttinger Zeiss-Zweigbetrieb führend. Die Kriegswichtigkeit der Produktion ließ Anfang 1944 die Diskussion aufkommen, sie zum Schutz vor Bombenangriffen unter dem Decknamen „Ör“ in die Jettenhöhle bei Osterode zu verlegen. Am 27. Dezember 1944 wies der Reichsminister für Rüstung und Kriegsproduktion die Rüstungsinspektion XI in Hannover an, „für Fertigung feinmechanisch-optisches Rüstungsgerät für Heer, Kriegsmarine und Luftwaffe der Fa. R. Winkel GmbH, Göttingen, Postfach 15 (…) die Jettenhöhle bei Papenhöhe im Südharz unweit Osterode mit 2.500 qm zu sperren“. Die Planungen wurden bis Kriegsende allerdings nicht weiter verfolgt. Ende 1944 zählte Winkel 651 Mitarbeiter, darunter 117 Ostarbeiterinnen und 50 „freie“ Ausländer. Etwa 25 bis 30 der in der Abteilung Feinmechanik angestellten Franzosen quartierte der Zulieferer in einer Holzbaracke auf dem Gelände der Strickwarenfabrik Schöneis & Co. in der Groner Landstraße 55 ein.
In dem Zusammenhang ist ebenfalls die Feinoptikfirma Voigt & Hochgesang, Untere Masch 26, anzuführen. Der erste Lehrling Rudolf Winkels, F. G. Voigt, hatte sie gegründet. Um die Jahreswende 1935/36 prüfte das RLM die Aufnahme des feinmechanischen Unternehmens auf die „Firmenliste für Auftragsvergabe“. Am 11. Januar 1936 folgte die Anregung, Voigt & Hochgesang „Unteraufträge auf Teilfabrikate zukommen zu lassen“. Zugleich ging an Zeiss die Weisung, die Firma möge Voigt & Hochgesang Aufträge auf Einzelteile für in Bombenabwurf-Geräten benötigte Lotfernrohre (Lotfe) abgeben. Auch die Werkstatt für Präzisionsmechanik von Georg Bartels, Untere Masch 26, wurde, wie die Wehrwirtschaftsinspektion XI Hannover am 11. November 1937 feststellte, als „Ausrüstungsfirma unter Federführung des Heeres unter Beteiligung von Heer und Luft“ geführt.
Ferner erhielt die Göttinger Wilhelm Lambrecht GmbH schon frühzeitig Rüstungsaufträge. Die 1859 von Wilhelm Lambrecht gegründete Firma für meteorologische Instrumente, seit 1864 in Göttingen ansässig, war Mitbegründer der Vereinigung Göttinger Werke. Die Wehrwirtschaftsinspektion XI Hannover benennt den Göttinger Traditionsbetrieb am 17. November 1936 dem RLM als mögliches Ausrüstungswerk. Doch schon seit Oktober 1936 belieferte Lambrecht die Luftwaffe mit Venturi-Düsen, ab Dezember des Jahres die Heinkel-Werke mit Leistungsschreibern. Ebenso stellte die Firma unter dem Kennzeichen „crg“ Wetterdienst-Geräte, Bodenmessgeräte für Flak, Gasfrühwarnsysteme, Windschreiber sowie Schiff- und Stations-Barometer her.
Für die Flugzeugindustrie war Lambrecht ein wichtiger Zulieferer, der sie mit Bordinstrumenten wie Höhen-, Geschwindigkeits- und Öldruckmessern sowie Variometern versorgte. 1939 und 1940 standen 80 Mitarbeiter an den Werkbänken, bis 1943 stieg die Zahl auf 95, offenbar den Höchststand in Kriegszeiten. Auffällig sind die zahlreichen Fotos von Szenen, bei denen sich die Firma durch Veranstaltungen oder Banner im Werk zum NS-Staat bekennt. Nach Ende des Krieges zeigten die Alliierten reges Interesse an den Produkten von Lambrecht. Am 23. Juli 1945 reichte das Unternehmen bei der Militärregierung Rechnungen für entnommenes Material im Wert von knapp über 69.000,00 RM ein, das die 21. Wetter-Schwadron der US-Armee unter Leitung von Capt. Singer am 12. Juni 1945 beschlagnahmt hatte; darunter rund 1.000 Hygrometer verschiedener Ausführung. Noch jahrelang stritt Lambrecht beim Göttinger Ausgleichsamt und Dienststellen der Alliierten, um den Verlust ersetzt zu bekommen. Letztlich blieben die Bemühungen erfolglos.