Göttingen I
Kriegsproduktion in der Stadt Göttingen
Die Integration angestammter Unternehmen in die Rüstungsmaschinerie
Anfang des 20. Jahrhunderts war in der Universitätsstadt noch das Bau- und holzverarbeitende Gewerbe mit 1.830 Beschäftigten die stärkste Wirtschaftsbranche. Weit dahinter lag das Tuchmachergewerbe, bei dem 488 Personen in Lohn und Brot standen; etwa 75 % waren allein in der Tuchfabrik Levin beschäftigt. Doch daneben war eine Vielzahl hochspezialisierter Kleinbetriebe der Feinmechanik, Optik und Elektrotechnik mit zunächst nicht mehr als 25 Beschäftigten entstanden. Überwiegend stellten sie für Universitätsinstitute Präzisionsgeräte, wie Analysewaagen (Sartorius), meteorologische Instrumente (Lambrecht), Mikroskope (Winkel) und Apparate für die mineralogische Forschung (Optisch-mechanische Werkstätten von Voigt & Hochgesang sowie Spindler & Hoyer) her. 1912 wurde die Firma Kosmos für Präzisionsinstrumente gegründet, und 1913 die Physikalischen Werkstätten (Phywe), die sich auf Lehrmaterialien spezialisierte. Die Firma Ruhstrat hatte die Elektrotechnik zu ihrer Domäne gemacht; die Herstellung von Widerständen war ihr Schwerpunkt. Binnen weniger Jahre entwickelte sich eine „Universitätsindustrie“, die bald ihre Erzeugnisse auch weltweit vermarkten konnte. Während des Ersten Weltkrieges hatten diese Unternehmen mit ihren Produkten die Armee beliefert; dadurch waren sie zu Industriebetrieben mit mehreren hundert Mitarbeitern herangewachsen.
Göttinger Betriebe versorgten schon während des Ersten Weltkrieges das Heer und die Marine mit mannigfaltigen Rüstungsgütern. Sie lieferten Vermessungsgeräte, Apparate zur Bestimmung des Standortes von Geschützen, Periskope für Geschütze, Armee-Beobachtungsrohre, Fern- und Prismengläser, elektrische Messgeräte, Notbeleuchtungen sowie Spezial-Widerstände für die Funktechnik. Andere stellten Zünder her oder bearbeiteten Granaten. Der Wegfall dieser kriesgbedingten Staatsaufträge führte zu Massenentlassungen und einer andauernden Krise der gesamten Branche, so dass im August 1933 noch immer 1.000 zumeist qualifizierte Arbeitskräfte erwerbslos waren. Verschärfend wirkte sich aus, dass gleichzeitig die Exportmärkte wegbrachen und die zivile Inlandsnachfrage stagnierte. Um der Krise zu begegnen, forderte der Magistrat der Stadt erstmals mit Schreiben vom 22. August 1933 vom Reichsarbeitsminister Unterstützung bei der Wirtschaftsförderung. Die Behörden sollten zu Neuanschaffungen angehalten und heimische Betriebe, so insbesondere die der Schwachstromtechnik, mit den großen Konzernbetrieben gleichbehandelt und mit Aufträgen bedacht werden.
Als Anhang dieser Petition überreichte der Göttinger Magistrat eine ausführliche Übersicht der für eine solche öffentliche Unterstützung in Frage kommenden Industriebetriebe. Dazu gehörten etwa die Feinmechanischen Werkstätten Achilles (Maschmühlenweg 95), die vor allem Ausrüstung für das Eisenbahnsicherungswesen wie Morse-Farbschieber, Fernsprecher, Umschalter sowie Leitungsklemmen produzierte. Auch die Werkstätten für Präzisions-Mechanik von Georg Bartels in der Unteren Maschstraße 26 (Aerodynamische, geophysikalische und elektrostatische Messinstrumente) und die Metallwarenfabrik Boie (Fabrikweg 2) wurden aufgeführt. Dieser Betrieb lieferte bereits im Ersten Weltkrieg Zündladungskapseln sowie Beleuchtungsteile für Flugzeuge. Die Elektro-Schalt-Werke AG (Ruhstrat) wurde als Spezialfabrik für elektrische Apparate besonders hervorgehoben. Im Krieg versorgte sie die Reichsmarine mit Notbeleuchtungen versorgt, war aber bei der Ausschreibung für zwei neue Panzerkreuzer unberücksichtigt geblieben. Neben automatischen Notbeleuchtungen, insbesondere für Gasschutzräume, konzentrierte sich die Firma auf die Fabrikation von Kontaktwiderständen sowie elektrischen Hochtemperatur-Schmelz- und Glühöfen. Als weitere potentielle Zulieferer von Instrumenten wurden die Mechanischen Werkstätten August Fischer in der Hospitalstraße 7 (Erschütterungsmesser, Abhorch- und Schallmess-Geräte) sowie die Firma Kosmos (meteorologische Stationen für Heereszwecke, Quecksilber-Barometer) präsentiert. Anfang September 1933 übersandte das Reichsarbeitsministerium dem Reichsminister der Luftfahrt in Abschrift das Schreiben des Göttinger Magistrats mit dem eindringlichen Wunsch, der Bitte auf Zuteilung von Aufträgen zu entsprechen. „Die Erhaltung der hochqualifizierten feinmechanischen Werkstätten Göttingens und des zu ihnen gehörenden Facharbeiterstamms“ liege „im Interesse der deutschen Wissenschaft und Volkswirtschaft“.
Am 10. März 1934 brachte die Hauptgeschäftsstelle Göttingen der Industrie- und Handelskammer das Begehren beim Reichsminister der Luftfahrt in Erinnerung. Sie bat ihrerseits um Unterstützung und Feststellung, „welcher Bedarf an feinmechanischen, optischen und ähnlichen Instrumenten“ bei sämtlichen „in Frage kommenden Instituten der dortigen Verwaltung“ bestehe. Das Ergebnis sollte den beschaffenden Stellen mit dem Auftrag zugeleitet werden, die erforderlichen Mittel zu bewilligen. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten. In der ersten Märzwoche 1936 beauftragte das Oberkommando der Wehrmacht die Esslinger Firma Carl Mahr, in Göttingen nach dem „Montan-Schema“ staatsfinanziert eine Fabrik für den Lehren- und Vorrichtungsbau „betriebsfertig einzurichten“. Sie sollte 150 bis 200 Mann mit der Herstellung von in erster Linie Gewindelehren beschäftigen. Eine zentrale Ausbildungsstätte für Lehrlinge im Lehrenbau sollte angeschlossen werden. Mahr blieb es überlassen, eine passende Fabrik um- oder auszubauen oder aber ein Grundstück zu erwerben und darauf einen kompletten Neubau zu errichten, doch sollten die Kosten 1,1 Million RM nicht überschreiten.
Mahr gründete zu dem Zweck am 25. März 1936 die 100%ige Tochtergesellschaft „Feinprüf, Feinmeß- und Prüfgeräte GmbH“ und entschied sich für einen Neubau im Göttinger Brauweg, der umgehend begonnen wurde. Für die Inbetriebnahme ließ Mahr ebenfalls aus Staatsmitteln 20 Göttinger Arbeitskräfte sechs Monate lang im Esslinger Stammwerk schulen. Im Mai 1937 befand sich die ‚Werksanlage A‘ noch im Rohbau. Diese war allenfalls in Teilen betriebsbereit, da lagen schon erste Aufträge vor. Anfang 1937 orderte das Heer eine Lieferung von Lehren, überwies auch gleich 50.000 RM. Die ersten 40 Lehren waren am 8. Mai 1937 fertig. Feinprüfs Speziallehren dienten allen Munitionslieferanten der Wehrmacht zur Herstellung ihrer Geschosse. Im März 1938 verlangte das OKH von Feinprüf auf dem Gelände unverzüglich eine zweite Fabrik gleicher Größe, ein ‚Werk B‘, zu errichten. In den kommenden zwei Jahren wandte das OKH weiter hohe Investitionen in den Ausbau der Anlage auf; eine Zweigniederlassung im thüringischen Schmalkalden, das ‚Werk C‘, kam hinzu.
Die besondere Wichtigkeit für die Kriegsvorbereitung von langer Hand unterstreicht, dass die Errichtungskosten der „Feinprüf“-Werke voll vom Reich getragen wurden, die Fabriken erst nach Fertigstellung über die staatseigene „Montan“ an Mahr verpachtet wurden. Die Pachtverträge wurden sehr viel später schriftlich fixiert, der zwischen der „Montan“ und Feinprüf am 30. Juni/31. August 1939, der Mantelvertrag zwischen Mahr und der „Montan“ am 26. April/2. Juli 1940. Kriegsbedingt fand das Unternehmen ab November 1941 kein deutsches Fachpersonal mehr. In einem Schreiben an die „Montan“ äußerte Feinprüf am 19. November 1941 die Hoffnung, für das Werk Göttingen 30 und für Schmalkalden 20 französische Metallarbeiter rekrutieren zu können. Das Göttinger Stammwerk wollte die Franzosen „geschlossen in einem Gasthaus“ unterbringen und in der Werkskantine verpflegen. Die „Montan“ wurde gebeten, „die Aufforderung mit allem Nachdruck beim Reichsminister für Rüstung und Munition“ zu vertreten. Die letztendlich 60 bis 80 auf diesem Weg zugeteilten französischen Arbeiter quartierte die Firma dann im Gemeindehaus der Albani-Gemeinde in der Innenstadt ein.
Ende 1942 bat die Firmenleitung den Kirchenvorstand, „die unteren Räumlichkeiten des Gemeindehauses zur Unterbringung von ausländischen Rüstungsarbeitern benutzen zu dürfen“. Der Mietvertrag gelangte Mitte Januar 1943 zur Unterzeichnung. Mindestens fünf weitere Franzosen waren in einem Steinbau in der Hospitalstraße untergebracht. Im März 1943 bekam „Feinprüf“ neun Ostarbeiter aus dem Durchgangslager Siemsen bei Recklinghausen zugewiesen. Im Oktober 1944 ging das Göttinger Werk ebenso wie die nach dem „Montan-Modell“ angepachteten Feinprüf-Fabrikationsstätten in Schmalkalden und Berlin-Neukölln in das Eigentum der Muttergesellschaft Mahr über. Der Anschaffungswert aller drei Betriebe hatte bei knapp acht Millionen RM gelegen, der Buchwert im Jahr 1944 betrug 5,3 Millionen RM. Davon hatte Mahr als Kaufpreis 85,7 % zu zahlen, mithin 4,947 Millionen RM. Ende 1944 beschäftigte Feinprüf Göttingen 690 Mitarbeiter, darunter ein Fünftel ausländische Zwangsarbeiter.